Monatsthema September "Arktisforschung ist Klimaforschung" - Bedrohte Ökosysteme: Forscher untersuchen arktische Nahrungsketten

Deutschland und Großbritannien arbeiten in der Arktisforschung eng zusammen. Die Basis bildet der bilaterale Förderschwerpunkt „Arktis im Wandel“, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über das Rahmenprogramm „Forschung für Nachhaltige Entwicklung“ (FONA) finanziert wird. Ziel ist, die Auswirkungen des Klimawandels auf Ökosysteme im Nordpolarmeer zu untersuchen. In zwei dieser Projekte geht es um Veränderungen in der arktischen Tierwelt.

Das Versteckspiel im Meereis beherrschen Polardorsche perfekt. Doch nur so können sich viele der silbrig glänzenden, langgestreckten Fische in ihren ersten beiden Lebensjahren den Fressfeinden entziehen. Zu Millionen bevölkern sie dann die Unterseiten der zerklüfteten Eisschollen, verbergen sich in den Lücken, Spalten, Labyrinthen und gehen dort selbst auf Jagd nach tierischem Plankton.

 

Erst im dritten Jahr verlassen Polardorsche diesen Schutzraum, wandern in Richtung Küste und halten sich in flacheren Gewässern rund um den Arktischen Ozean auf. Wichtige Laichgebiete werden in der Karasee sowie der Laptewsee vermutet. Dort startet ein neuer Lebenszyklus: Unzählige Jungfische lassen sich im Herbst mit dem neu gebildeten Meereis bis in die Zentralarktis treiben.

Die Lebensräume der Polardorsche werden seit Jahren vom Alfred-Wegner-Institut (AWI), Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, untersucht. Nach wie vor ist das Wissen über diese für das arktische Nahrungsnetz bedeutende Fischart lückenhaft – vor allem die Wanderung mit der Eisdrift ist wenig erforscht. Ebenso ist noch unklar, welche Folgen der Klimawandel für Polardorsche hat.

Diesen Fragen gehen Forscherteams aus Deutschland, Großbritannien und Norwegen im aktuellen Projekt „COLDFISH" nach, einem von zwölf vom BMBF im Rahmen von „Arktis im Wandel" bilateral geförderten Vorhaben. Das Projekt konzentriert sich auf die Fischbestände in der Barentssee und angrenzende Ozeangebiete und wird vom AWI-Wissenschaftler Hauke Flores koordiniert.

Die Daten für dieses Vorhaben sollen auf verschiedenen Forschungsfahrten in der Arktis gesammelt werden. So ist „COLDFISH" auch mit der großen Arktisexpedition MOSAiC, die am 20. September startet und an der 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 19 Nationen beteiligt sind, thematisch verbunden. Flores hofft auf weitere Erkenntnisse zur Wanderung der Polardorsche.

„Wir beobachten, dass die Polardorsch-Populationen durch die Erwärmung des Wassers weiter nach Norden getrieben werden", sagt Flores. Gleichzeitig drängen von Süden her Lodde, Kaubeljau und verschiedene andere Fischarten in ihre Habitate und machen ihnen Konkurrenz. In der Barentssee sind in den vergangenen Jahren immer weniger Polardorsche nachgewiesen worden.

Für die Erforschung des Polardorschs steht hochmoderne Technik zur Verfügung. So werden spezielle Fangnetze unter dem Eis eingesetzt, um die Bestände der Jungfische zu erfassen. Auch die Herkunft der gefangenen Polardorsche kann mit innovativen Verfahren bestimmt werden – etwa durch eine Isotopenanalyse des organischen Materials in den Otolithen, den Gehörsteinchen der Fische.

Wie sehr sich die Erwärmung des Arktischen Ozeans auf den Fortbestand der Polardorsche auswirkt, ist derzeit noch unklar. Sie laichen bei Wassertemperaturen zwischen 0 und 1,5 Grad Celsius, weil sich die befruchteten Eier bei dieser Temperatur am besten entwickeln können. Zum Vergleich: Kabeljaue laichen bei 3 bis 7 Grad Celsius.

Diese Abhängigkeit von kaltem Wasser könnte dem Polardorsch zum Verhängnis werden. In früheren Analysen, etwa in dem vom BMBF geförderten Forschungsverbund „BIOACID", kamen AWI-Experten zum Ergebnis, dass bereits eine geringe Erhöhung der Temperatur die Überlebenschancen der Eier stark vermindert. Hinzu kommt die Ozeanversauerung, die den Embryonen zusetzt.

Der Rückgang der Polardorschbestände könnte eine ganze Kettenreaktion in Gang setzen. Schließlich sind diese fettreichen Fische eine essentielle Nahrungsquelle für viele arktische Vögel, aber auch für Meeressäuger wie Belugas, Narwale und Ringelrobben. Und am Ende wären auch Eisbären, die sich überwiegend von Robben ernähren, von diesem Szenario betroffen.

Flores untersucht innerhalb von „COLDFISH" zusammen mit seiner Kollegin Kim Vane noch einen weiteren Faktor in der Nahrungskette: Veränderungen im Wachstum der Eisalgen. Diese finden im Frühjahr unterhalb des Meereises ideale Siedlungsflächen und dienen als Grundnahrungsmittel für Zooplankton-Arten wie Ruderfußkrebse. Von diesen Lebewesen sind junge Polardorsche abhängig.

Wenn jedoch Eisalgen aufgrund des schwindenden Meereises schlechter gedeihen, hätte dies fatale Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem, betont Flores. In früheren Untersuchungen hat er nachgewiesen, dass die eisnah lebenden Organismen zwischen 60 und 90 Prozent ihres Kohlenstoffs aus Eisalgen beziehen. Tiere in größeren Wassertiefen wiesen Werte zwischen 20 und 50 Prozent auf.

„Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass sich die räumliche Verteilung der Nahrung in der Arktis ändert", sagt Flores. Der Rückgang des Eises werde eine Vielzahl arktischer Meeresbewohner treffen. „So sind Vögel, die sich auf Polardorsche spezialisiert haben und sie zwischen den Eisschollen picken, eindeutig die Verlierer."

Auch beim Projekt „LOMVIA", an dem das Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena beteiligt ist, geht es um Veränderungen in der arktischen Tierwelt: Hier werden die Auswirkungen des Klimawandels auf den Wettbewerb zwischen zwei eng verwandten Vogelarten erforscht – die Untersuchung konzentriert sich auf die isländische Insel Grimsey am nördlichen Polarkreis.

Trottellummen, die eigentlich in gemäßigteren Breiten heimisch sind, dringen in die Lebensräume der Dickschnabellumme vor, die an felsigen Steilküsten in der Arktisregion brüten. Beide ähneln sich fast zum Verwechseln und arrangieren sich gut miteinander. In LOMVIA wollen die Forscher nun herausfinden, welche Art besser mit den sich wandelnden Bedingungen zurechtkommt.

„Um neue Einblicke in die Ernährung und die ökologischen Anpassungen dieser beiden Arten zu erhalten, statten wir die Vögel mit Miniatur-Tracking-Geräten aus, nehmen ihnen Blut ab und sammeln kleine Federn ein", erläutert Thomas Larsen, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei LOMVIA. Dazu werden einige der Vögel an den Felsvorsprüngen auf Grimsey gleich zwei Mal eingefangen, was eine Herausforderung darstellt und viel Übung verlangt.

Die Ortungsgeräte speichern geografische Standorte und Tauchtiefen. Aus den Blutproben lässt sich anhand der Isotopendaten die Ernährungsgeschichte der vergangenen Wochen rekonstruieren. Die Analyse von Hals- und Kronenfedern dient dazu, saisonale Veränderungen nachzuweisen. Aber auch klassische Methoden werden herangezogen - etwa die Ergebnisse von Vogelzählungen seit 1980.

„Diese Daten zeigen, dass mit wenigen Ausnahmen beide Arten zurückgehen", sagt Larsen. Die Dickschnabellummen seien fast vollständig aus dem Süden Islands verschwunden. Trotz verbesserter Analysemethoden benötigen die Forscher für einen genauen Vergleich historische Gewebeproben oder Fragmente von Eierschalen. Hierfür wurden Sammlungen in ganz Nordeuropa angefragt.

Dabei sind die Vögel nur ein Beispiel, um die Folgen des Klimawandels auf die Ernährung bestimmter Tierarten und ihre Wechselwirkungen zu definieren. Die Forscher befürchten, dass dieses komplizierte System längst aus den Fugen geraten ist. Jetzt wollen sie Nachweise bringen.

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