Biologische Kipppunkte im Humboldt-System: Aktuell im Brennpunkt des Projektes Humboldt Tipping sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Gesellschaft, Ökosysteme und marine Biodiversität

Die Coronavirus-Pandemie stellt eine besondere Art von Krise dar. Das BMBF-Projekt Humboldt Tipping zeigt am Beispiel der Küstenregion Perus auf, wie rasch ökosystemare und gesellschaftsrelevante Forschungsfragen an neue Gegebenheiten anzupassen sind.

Das Humboldtstrom System mit seinem Auftriebsgebiet an der Pazifikküste Südamerikas ist ein hochproduktives Ökosystem und ein Hotspot mariner Biodiversität. Hier werden jährlich im Schnitt um die neun Millionen Tonnen Fisch und andere Meeresfrüchte gefangen. Das Ökosystem ist hochkomplex. Die Passatwinde sorgen im Pazifik vor fast der gesamten amerikanischen Küste für den Transport von kaltem, nährstoffreichem Wasser von der Tiefe an die Oberfläche. Erwärmt sich der Pazifik vor der Küste Perus jedoch durch das Abschwächen der Winde, beeinflusst dies auch andere Regionen. Die Folge sind Dürre und extreme Regenfälle, man spricht dann von dem El Niño-Phänomen mit seinen weltweiten Auswirkungen. Um dieses Ökosystem wirklich verstehen zu wollen, dürfen die menschlichen Einflüsse durch Fischerei und die Folgen des Klimawandels nicht außer Acht gelassen werden. Doch was tun, wenn sich mitten in der laufenden Forschung die anthropogenen Treiber ändern?

Humboldt Tipping

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des BMBF-Projektes „Sozial-ökologische Kipppunkte im System des nördlichen Humboldtstrom Auftriebsgebiets, ökonomische Auswirkungen und Steuerungsstrategien" (Humboldt Tipping) untersuchen die Komplexität dieses Systems und ihre biologischen Kipppunkte an der Küste Perus. Die Effekte der Coronavirus-Pandemie ermöglichen den Forschern nun einen völlig neuen Blick des menschlichen Einflusses auf das Ökosystem.

Ein Ziel dieser Forschung ist, das Verständnis für Rückkopplungen zwischen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Dynamiken mit Beiträgen einer Vielzahl von Interessengruppen zu verbessern. In dem transdisziplinär ausgerichteten Projekt werden Forschungsansätze mit lokalem Expertenwissen und der gezielten Einbindung von Anwendern miteinander verbunden, so dass Forschungsergebnisse unmittelbar angewendet werden können. Die Corona-Pandemie beeinflusst diese Rückkopplungen nun aber auf allen Ebenen in einem noch unbekannten Ausmaße.

Der Humboldtstrom hat eine Länge von über 6.500 Kilometern und erreicht eine Breite von bis zu 900 Kilometern. Seinen Ursprung hat der kalte, salzarme, oberflächennahe Strom in der Antarktis, von wo er an der Westküste Südamerikas vorbeifließt. Der Auftrieb von nährstoffreichem kalten Tiefenwasser an den Küsten Südamerikas macht ihn zu einem hochproduktiven Ökosystem.

Das Projekt Humboldt Tipping konzentriert sich dabei auf zwei Systeme: zum einen auf das pelagische System auf dem offenen Meer/Ozean und die von ihm abhängige peruanische industrielle Sardellenfischerei, deren Ertrag hauptsächlich in die Produktion von Fischöl und -mehl fließt. Zum anderen auf Küsten- (Independence Bay und Sechura Bay) und Inselsysteme (Galapagos), in denen handwerkliche Fischerei, Aquakultur und Ökotourismus die wichtigsten maritimen Aktivitäten zur Sicherung des Lebensunterhalts der lokalen Bevölkerung sind.

Im November und Dezember wurden Workshops in Lima (Peru), und den Regionen Ica und Piura durchgeführt. Dort entwickelten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Stakeholdern Szenarien, wie sich das System vor dem Hintergrund sich verändernder ökologischer und sozioökonomischer Faktoren wie Umweltverschmutzung, Küstennutzung und Bevölkerung, soziale Organisation und Umweltvariabilität wandeln könnte.

Corona-Pandemie

Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass ein weltweiter Ausbruch des Coronavirus SARS-CoV-2 / COVID-19 bevorstand. Doch genau diese Szenarien bekommen in Zeiten einer Pandemie eine ganz neue Gewichtung. Aufgrund ihrer Schlüsselrolle bei der Nahrungsmittelversorgung wurden die handwerkliche Fischerei mit ihren über 3.000 Schiffen und die verarbeitende Industrie sowie weitere damit verbundene Aktivitäten von dem verordneten Shutdown im Land ausgenommen. Denn die Lebensgrundlage von ca. 200.000 Menschen hängt direkt von der Fischerei in Peru ab. Dennoch befindet sich dieser Sektor aufgrund der Gesundheitskrise nun in einem nie da gewesenen Umbruch. Grenzschließungen, eine mangelnde Nachfrage an Produkten, aber auch Schwierigkeiten bei dem Zusammenstellen der Besatzungen haben nicht nur in Peru, sondern weltweit die größte Fischereikrise ausgelöst.

Als im April erstmals Infektionen bei verschiedenen, in der Fischerei und deren weiteren Verarbeitung tätigen Personen festgestellt wurden, führte dies zur Schließungen von Anlandestellen. Aber die Fischerei wurde als solche aufgrund ihrer Schlüsselrolle bei der Nahrungsmittelversorgung nie in Frage gestellt. Mit steigenden Infektionszahlen und Sterbefällen sind es nun die Fischer selbst, die auf ein Aussetzen der Fischfangsaison drängen, ein bisher einmaliger Vorgang mitten in der Hauptsaison. Welche Auswirkungen die verringerte Fischereiaktivität und die gesellschaftlichen Bewegungen auf die Ökonomie haben, und was dies auch für das Ökosystem vor der Küste bedeutet, ist noch wie ein Blick in die Glaskugel.

Detaillierte Untersuchungen werden folgen, wenn die Forschenden wieder in das Land einreisen dürfen und auf ihren Seereisen biologische Proben nehmen können. Denn etliche mögliche biologische Kipppunkte hatten die Wissenschaftler im Blick als sie das Projekt starteten, COVID-19 als Kipppunkt jedoch nicht.

Mehr Informationen zu dem Projekt und erste detailliertere Informationen zu den Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie finden Sie unter https://humboldt-tipping.org.

Hintergrund

Das Projekt „Humboldt Tipping" aus der Fördermaßnahme „Kipppunkte, Dynamik und Wechselwirkungen von sozialen und ökologischen Systemen BioTip" wird vom BMBF von 2019 bis 2022 mit rund 4 Mio. Euro gefördert.

Mit Hilfe von verschiedenen Modellierungsansätzen und im Dialog mit verschiedenen Interessengruppen und Entscheidungsträgern vor Ort untersucht Humboldt Tipping Anpassungsansätze an den Klimawandel. Daraus abgeleitete Empfehlungen sollen helfen, das Risiko der Auswirkungen von Klimawandel-Kipppunkten auf die regionale Wirtschaft zu verringern und die Resilienz der Küstengemeinden in Peru zu erhöhen.

In dem Projekt arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der Universität Hamburg, der Universität Bremen, dem Leibniz Zentrum für Marine Tropenforschung Bremen und dem GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel gemeinsam mit Partnern aus dem dem Instituto del Mar del Perú (IMARPE) und der Group for the Analysis of Development (GRADE), Lima, Peru.