Naturgefahren und Kettenreaktionen: Risiken genauer einschätzen
Weltweit sind immer mehr Menschen Naturgefahren ausgesetzt, vor allem in dichtbesiedelten Städten und Ballungsräumen. Effektives Risikomanagement kann hier Leben retten.
Eine Gefahr kommt selten allein: Löst ein Erdbeben einen Tsunami aus, kann dieser weitere Umweltkatastrophen und Störfälle provozieren. Ein Starkregen kann Hänge zum Rutschen bringen, Flüsse aufstauen und in der Folge Flutwellen auslösen. Diese Kettenreaktionen lassen Katastrophen weiter eskalieren und können Betroffene und Helfer überfordern. Informationssysteme können im Vorfeld helfen, Planer und Einsatzkräfte auf solche Multi-Risiko-Szenarien vorzubereiten und gezielt vorzusorgen. Am 1. März 2021 startet daher das internationale Verbundprojekt RIESGOS 2.0: Unter Federführung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) entwickeln Forscherinnen und Forscher wissenschaftliche Methoden und Technologien für die Multi-Risiko-Analyse.
Große Akzeptanz bei Partnern aus Chile, Ecuador und Peru
Das Projekt baut auf den Arbeiten des Vorläufer-Projekts RIESGOS (spanisch: Risiken) auf. Hier wurde eine neue Methode konzipiert und demonstriert, um am Beispiel der Andenregion komplexe Multi-Risiko-Situationen abzubilden und zu simulieren. „Das in RIESGOS entwickelte Konzept stößt auf große Akzeptanz in unseren südamerikanischen Partnerländern. In den nächsten drei Jahren werden wir daher gemeinsam offene, zentrale Forschungsfragen bearbeiten, unseren Ansatz substanziell erweitern und das Potenzial für die praktische Nutzung stärken“, sagt Projektleiterin Dr. Elisabeth Schöpfer vom Earth Observation Center des DLR.
Die Projektentwicklungen werden aktuell in einer virtuellen Veranstaltungsreihe mit Akteurinnen und Akteuren aus Chile, Ecuador, Peru und Deutschland diskutiert. Rund 200 Teilnehmer der Auftaktveranstaltung dokumentieren das große Interesse an dem neuen Weg in der Multi-Risiko-Bewertung.
Risiko durch Wechselwirkungen zwischen Naturgefahren darstellen
Der Demonstrator für ein Multi-Risiko-Informationssystem ist dezentral angelegt. Über eine Webplattform lassen sich Verlauf und Wechselwirkungen verschiedener Naturgefahren – unter anderem Erdbeben, Hangrutschungen, Vulkane, Hochwasser und Tsunamis – simulieren und darstellen. Auch kritische Infrastrukturen wie beispielsweise Stromnetze werden berücksichtigt. Die einzelnen Naturgefahren, deren Wechselwirkungen und kaskadierende Effekte, werden über Webdienste abgebildet und gemeinsam analysiert. Dies erlaubt Nutzern wie Zivilschutzbehörden, Planungsämter und Hilfsorganisationen künftig verschiedene Katastrophenszenarien durchzuspielen und auszuwerten.
Die Entwicklungen setzen konsequent auf „open source“, berücksichtigen internationale Standards und können so in bestehende Systemumgebungen integriert werden. Damit sind die Grundlagen für eine nachhaltige Nutzung der Projektergebnisse in den Partnerländern geschaffen.
Enge Zusammenarbeit mit Nutzern
In RIESGOS 2.0 werden potenzielle Katastrophenszenarien anhand von besonders gefährdeten Pilotregionen in Chile, Ecuador und Peru entwickelt. Nicolás Malo, Staatssekretär des Sekretariats für Hochschulbildung, Wissenschaft, Technologie und Innovation Ecuadors, SENESCYT (Secretaría de Educación Superior, Ciencia, Tecnología): „Wir leben in einer anfälligen Gesellschaft, in der wir den Umgang mit eventuellen und zukünftigen Risiken im Vorfeld planen müssen. Hierfür ist es unerlässlich, die Entwicklung von Forschung und Innovation zu stärken. Die Problematik von multiplen Risiken ist ein gesellschaftliches und natürliches Phänomen, das eine solide Antwort aus verschiedenen Bereichen, wie der Verwaltung und der Gesetzgebung erfordert, die wiederum auf wissenschaftlich technischen Erkenntnissen basiert. Das DLR und das SENESCYT sind sich gleichermaßen bewusst, wie wichtig es ist, einen Plan zu entwickeln, der sich auf die Untersuchung von Risiken – ausgehend von einem wissenschaftlichen und technologischen Ansatz – konzentriert. Deshalb sind beide seit 2017 gemeinsam am RIESGOS Projekt beteiligt."
In enger Zusammenarbeit mit den lokalen sowie nationalen Partnern optimiert das Entwicklerteam die Demonstrator-Plattform für den Einsatz in der Praxis. Die hier entwickelten Elemente können künftig in länderspezifische Informationssysteme integriert werden und vor Ort helfen, Strategien zu entwickeln, um Risiken zu vermeiden oder zu verringern. Das eröffnet beispielsweise Behörden neue Möglichkeiten, die Landnutzungsplanung besser an die Risikoszenarien anzupassen und das Risikobewusstsein in der Bevölkerung zu stärken.
Katastrophenschäden reduzieren
Der Ansatz, der im Rahmen des RIESGOS Projektes entwickelt wurde, dient „der Förderung von Synergien für die Durchführung genauerer Diagnosen, die eine eindeutige Identifizierung von Maßnahmen, Projekten und Programmen zur Katastrophenvorsorge und -reduzierung ermöglichen, wobei die Auswirkungen zwischen den verschiedenen Aspekten der Anfälligkeit berücksichtigt werden. Ziel ist hier eine adäquate Entscheidungsfindung seitens der Instanzen auf den drei Regierungsebenen“, erklärt Juvenal Medina Rengifo, Leiter des Nationalen Zentrums zur Einschätzung, Prävention und Reduzierung von Katastrophenrisiken CENEPRED (Centro Nacional de Estimación, Prevención y Reducción del Riesgo de Desastres) in Peru.
In RIESGOS 2.0 sollen zudem Unsicherheiten und Ungenauigkeiten der genutzten Modelle wissenschaftlich erfasst und quantifiziert werden. Die Projektpartner arbeiten dazu interdisziplinär zusammen und nutzen Ansätze aus Geophysik, Hydrologie, Geologie, Geographie, Geostatistik und Fernerkundung sowie bestehende Initiativen und Dienste der südamerikanischen Mitwirkenden.
Rodrigo Cienfuegos, Leiter des chilenischen Forschungszentrums für integriertes Katastrophenrisikomanagement CIGIDEN (Centro de Investigación para la Gestión Integrada del Riesgo de Desastres) und Mitglied der Fakultät für Ingenieurswissenschaften an der Päpstlichen Katholischen Universität von Chile (Pontificia Universidad Católica de Chile), betont: „Die in RIESGOS implementierte Plattform wird den Einsatz verteilter Technologien zum Betrieb verbundener Webdienste sowie die Kompatibilität der Katastropheninformationssysteme und -bewertungsmodelle verschiedener Länder verbessern. Auch die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, die in Chile durchgeführt werden, um detaillierte Expositionskarten und prospektive Risikoanalysen für diverse Städte zu erstellen, könnten auf einfache Weise mit der RIESGOS Plattform verknüpft werden. Dies würde den Wissenstransfer in die Entscheidungsfindungsphase erleichtern”.
Gesellschaftliche Verantwortung und Innovation
Eine hochtechnisierte und globalisierte Welt wird gegenüber Naturkatastrophen immer anfälliger, die dann schnell weitreichende Folgen haben können. So brachte etwa der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull 2010 den Flugverkehr über ganz Europa zum Erliegen. Angesichts dieser wachsenden Herausforderungen ist eine internationale Zusammenarbeit unter Einbezug der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure unerlässlich. Mit RIESGOS 2.0 führen das DLR und die Verbundpartner gemeinsam ihr Engagement fort und setzen auf Nachhaltigkeit. Dazu werden langfristige Partnerschaften in den Zielländern aufgebaut, Lösungen für konkrete Problemstellungen erforscht und in die Anwendung gebracht. Von der Praxiserfahrung der südamerikanischen Akteure können die Entwickler gleichzeitig viel lernen.
Durch die internationale Zusammenarbeit leistet das vom DLR koordinierte Projekt einen Beitrag, die Forschung und Innovation in Deutschland zu stärken und die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu unterstützen. So werden die an RIESGOS 2.0 beteiligten KMUs unter anderem in den Zielländern durch die deutschen Auslandshandelskammern unterstützt, die das wirtschaftliche Potential der Entwicklungen unter anderem für die Versicherungswirtschaft untersuchen.
Über das Projekt
RIESGOS 2.0 (Szenarien-basierte Multi-Risikobewertung in der Andenregion) wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Der Projektträger Jülich betreut das Projekt im Auftrag des Bundesforschungsministeriums fachlich und administrativ. Das RIESGOS 2.0 Projektkonsortium setzt sich aus folgenden Forschungseinrichtungen und Industriepartnern zusammen: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Deutsches GeoForschungsZentrum, Alfred-Wegener-Institut, Technische Universität München, 52 North, geomer, DIALOGIK, SLU. Assoziierte Partner sind: GIZ, UNOOSA / UN-SPIDER, UNESCO und Munich Re. RIESGOS 2.0 kooperiert mit einer Vielzahl von Forschungsinstitutionen und Behörden in den südamerikanischen Partnerländern Chile, Ecuador und Peru.