Rewilding - Mehr Freiraum für natürliche Prozesse

Biodiversität zu schützen, ist überlebenswichtig. Im Interview mit Professor Dr. Bernd Hansjürgens, Koordinator des Projektes REWILD_DE, wird das Konzept des Rewilding zum Erhalt der Artenvielfalt näher beleuchtet.

Herr Professor Hansjürgens, was versteht man unter dem Konzept Rewilding?
Die Idee des sogenannten Rewilding ist nicht neu und wurde bereits vor 20 Jahren zum ersten Mal als Lösungsansatz für den Klimawandel und das Artensterben entwickelt. Rewilding steht für das Wiederzulassen natürlicher Prozesse, um so bedrohten Tier- und Pflanzenarten ihren ursprünglichen Lebensraum zurückzugeben und dadurch die biologische Vielfalt zu erhöhen. Im Zentrum von Rewilding steht die Grundidee, dass die Natur selbst am besten für ihr ökologisches Gleichgewicht sorgen kann und daher in einem intakten Ökosystem Eingriffe wie die Eindämmung von Populationen nicht mehr notwendig sind.

Hintergrund

Mit der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die wissenschaftliche Untersuchung der Biodiversität in Deutschland und die Entwicklung neuer, effektiver Artenschutzmaßnahmen. In der ersten Ausschreibung der Forschungsinitiative wurden 19 Projekte zum Thema „Wertschätzung und Sicherung von Biodiversität in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft" (BiodiWert) zur Förderung in der Konzeptionsphase ausgewählt. Zu diesen Projekten gehört auch das Forschungsvorhaben REWILD_DE.

Wie ist das Projekt REWILD_DE entstanden?
Unser Projekt baut auf die enge Kooperation mit dem Verein „Rewilding Oderdelta", der – aufbauend auf Vorarbeiten verschiedener Umwelt-, Unternehmens- und Tourismusgruppen – 2019 gegründet wurde. Beheimatet ist das Projekt auf der deutschen Seite des Oderdeltas und umfasst den Landkreis Vorpommern–Greifswald. Dieses Gebiet ist charakteristisch für diverse Biotope wie Auen- und Bruchwälder, Laub- und Nadelwälder, Moore, Stand- und Fließgewässer, Binnendünen und Heideflächen bis hin zu landwirtschaftlich genutzten Acker- und Grünlandflächen. Eine Reihe an großen Tierarten wie baltischer Stör, Biber, Kegelrobbe, Seeadler und Wolf gibt es hier bereits wieder, andere wie der Elch wandern immer mehr aus Polen ein und künftig wahrscheinlich auch der Wisent. Das sind gute Voraussetzungen, um lokale Einkommensquellen wie zum Beispiel den Tourismus zu stärken.
Das Oderdelta (in Deutschland und Polen) ist eine von acht Modellregionen in Europa, deren gemeinsames Ziel es ist, Wildnisareale und halb offene Landschaften miteinander zu vereinen und in diesen Gebieten einheimische Tier- und Pflanzenarten zu fördern. Ein weiterer Grundgedanke ist, das Miteinander von Mensch und Natur zu unterstützen und dabei die Möglichkeit von nachhaltigen Einnahmenquellen zu begünstigen.

Welchen Forschungsfragen gehen Sie und Ihr Team bei REWILD_DE insbesondere nach?
Wir untersuchen, unter welchen Bedingungen die Ökosystemleistungen des Rewilding verstärkt und besser genutzt werden können, damit die Menschen, die im Oderdelta leben, einen Nutzen hiervon haben und das Konzept aktiv unterstützen. Außerdem schauen wir uns an, welche Möglichkeiten und Grenzen das Rewilding im Oderdelta für die Erhaltung und Wiederinstandsetzung der Biodiversität bietet und welche Rolle es wiederum für den Biodiversitäts- und Naturschutz in Deutschland insgesamt einnehmen könnte.

Ökosystemleistungen

Als Ökosystemleistungen werden die Dienstleistungen der Natur für den Menschen bezeichnet, die der Mensch durch die Lebensräume und Lebewesen wie Tiere und Pflanzen bezieht. Ökosystemleistungen sind die Basis für die Gewährleistung grundlegender Bedürfnisse des Menschen. Ökosystemleistungen umfassen materielle Versorgungsleistungen (z. B. die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Rohstoffen), Regulierungsleistungen (z. B. biologische Schädlingsbekämpfung, Bestäubung von Nutzpflanzen) sowie kulturell bedeutsame Leistungen (z. B. Erholungsmöglichkeiten in der Natur etc.).

Wie wird die Untersuchung im REWILD_DE-Projekt verlaufen?
Wir nutzen einen dialogorientierten Ansatz. Der aktive Dialog mit der Bevölkerung vor Ort ist entscheidend, um zu verstehen, was die Menschen bewegt. Oft bringen sie selbst Vorschläge ein und wir können auf den Erfahrungsschatz der Menschen in der Region zurückgreifen. Und wir lernen zu verstehen, welche Sorgen sie vielleicht haben und inwiefern sie die Idee des Rewilding möglicherweise auch kritisch bewerten. Mit künstlerischen Aktionen und Veranstaltungen soll darüber hinaus eine Verständigung über den Grundgedanken des Rewilding erreicht und insbesondere eine Wertschätzung von Natur gefördert werden. Auf Basis dieser Ergebnisse wird ein Gesamtkonzept für die Umsetzung von Rewilding am Oderdelta entwickelt.

Welche Ergebnisse erhoffen Sie sich von REWILD_DE und wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was sollte nach dem Projekt passieren?
Wir erhoffen uns konkret drei Ergebnisse. Erstens wollen wir besser verstehen, wie Rewilding-Prozesse ablaufen, was sich ökologisch zeigt. Zweitens wollen wir ganz konkret für die Region Oderdelta – gemeinsam mit den Akteuren vor Ort – eine regionale Zukunftsperspektive entwickeln und verankern, die auf dem Rewilding aufbaut. Und drittens wollen wir prüfen, an welchen Standorten in Deutschland Ansatzpunkte bestehen, um neben dem durch Schutzgebiete geprägten „klassischen" Naturschutz Rewilding als andere Formen des Naturschutzes einzuführen, um so die biologische Vielfalt zu erhalten. Mein Wunsch wäre, dass nach dem Projekt etwas entstanden ist, das die Menschen selbst als „blühende Landschaft" wahrnehmen.

Der 22. Mai ist der Tag der Artenvielfalt. Vor dem Hintergrund dieses Datums: Welchen Beitrag können wir alle in unserem Alltag für die Biodiversität leisten?
Es wäre viel gewonnen, wenn jeder Einzelne von uns seinen Fleischkonsum überdenkt. Die hohe Nachfrage nach tierischen Produkten zerstört die Ökosysteme, und zwar nicht nur bei uns, sondern weltweit. Und sie ist schädlich für unsere Gesundheit. Dabei geht es mir überhaupt nicht um fleischlosen Konsum, aber es geht um ein Maßhalten, ein Zurückfahren dieser überaus umweltschädlichen Lebensweise.