Monatsthema Mai „Biodiversität“: Die fundamentale Bedeutung der Artenvielfalt für unsere Ozeane
Experten gehen davon aus, dass in den Weltmeeren über zwei Millionen Arten leben. Bekannt sind davon bisher etwa eine Million. Viel wichtiger als diese Zahlen sind dem Biodiversitätsforscher Prof. Dr. Helmut Hillebrand aber die Funktionen, die die Tiere und Pflanzen im Meer erfüllen, etwa dass sie Sauerstoff produzieren. Im FONA-Interview verrät er, welche Art am ehesten nach ihm benannt werden sollte und wo es in den Weltmeeren die größte Artenvielfalt gibt.
Wie viele verschiedene Arten gibt es in den Weltmeeren?
Das ist eine sehr schöne Frage. (lacht) Die ist leider gar nicht so leicht zu beantworten, weil es eine sehr hohe Dunkelziffer gibt. Denken Sie mal an die Tiefsee: Ähnlich wie in den Regenwäldern wissen wir gar nicht, wie viele unbekannte Arten dort leben. Experten, die sich ausschließlich damit befassen, Arten zu klassifizieren – sogenannte Taxonomen – schätzen, dass wir nur die Hälfte oder gar nur zehn Prozent aller Arten kennen. Wenn wir die Bakterien auslassen, dann gehen Schätzungen von etwa neun Millionen Arten auf dem Planeten aus, von denen um die zwei Millionen Arten im Meer leben. Momentan kennen wir etwa eine Million Arten in allen Weltmeeren.
Wo gibt es weltweit die höchste Artendichte im Meer?
Die artenreichste Region auf unserem Planeten ist das indopazifische Korallendreieck zwischen Australien, Indonesien und den Philippinen. Wenn man sich aber anschaut, wo es die meisten Arten gibt, die nirgendwo anders auf dem Planeten vorkommen, dann sind das andere Regionen, zum Beispiel die Pole. Man kann also ganz unterschiedliche Kriterien für Biodiversität ansetzen.
Wie ist es um die Artenvielfalt im Meer bestellt?
Die Artenvielfalt verändert sich im Augenblick sehr stark. Wenn wir uns genauer mit der Biodiversität im Meer auseinandersetzen, sprechen wir aber nicht nur von Artenverlust, sondern von Biodiversitätsveränderung: Einige Arten wandern ein, andere werden verdrängt. Das ist ein natürlicher Prozess, der immer schon stattgefunden hat. Wir nehmen aber an, dass menschliche Aktivitäten diesen Verschiebungsprozess massiv beschleunigen.
Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch im Meer Arten, die gefährdet sind. Beispielsweise, weil sie nur in einem kleinen Bereich vorkommen, der dann auch noch von Umweltveränderungen betroffen ist. Besonders kritisch sehe ich den Verlust von sogenannten Gründerarten – Arten, die einen Lebensraum für andere Tiere und Pflanzen bilden – wie zum Beispiel durch die Korallenbleiche oder den Verlust von Seegraswiesen.
Ein weiterer eindeutig negativer Effekt des Klimawandels auf die Lebensgemeinschaften im Meer ist, dass sich überall ähnliche Arten ausbreiten – Biologen sprechen von einer Homogenisierung. Das ist besorgniserregend, weil die Anpassungsfähigkeit der Ökosysteme darunter leidet.
Warum ist eine große Artenvielfalt im Meer so wichtig?
Wenn eine Art im Ökosystem wegbricht, kann bei höherer Biodiversität eine andere Art die Rolle der ausgestorbenen Art übernehmen. Wir wissen, dass somit eine hohe Artenvielfalt zu einer besseren Anpassungsfähigkeit an Umweltveränderungen führt. Biodiversität beeinflusst sowohl die aktuelle Leistung eines Ökosystems als auch seine zukünftige Stabilität positiv.
Außerdem spielt die Biodiversität eine sehr wichtige Rolle für das Wohlbefinden des Menschen: Intakte Meere liefern mehr Fisch und produzieren mehr Sauerstoff. Wenn ich an meine Studienzeit zurückdenke, dann stand in meinen Lehrbüchern der Ökologie immer, dass Biodiversität wichtig ist, weil sie a) einen ästhetischen Wert hat und b) in marinen Organismen bestimmt irgendwann Wirkstoffe gefunden werden, aus denen medizinische Produkte hergestellt werden können. Der Wissenschaft ist es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen zu zeigen, dass dieses Verständnis zu kurz greift und Biodiversität viel fundamentaler für die Ozeane ist.
Welche Art im Meer wird als nächstes aussterben?
Die Frage finde ich toll, weil ich glaube, dass das die ganz große Herausforderung für die Biodiversitätsforschung in den nächsten zehn Jahren ist: Aus der Beschreibung dessen, was jetzt passiert, die Zukunft vorherzusagen. Ich halte es für einen der größten Erfolge der Klimaforschung, dass es möglich ist, mithilfe von Klimamodellen zu prognostizieren, welche Erwärmung wir in den kommenden Jahrzehnten zu erwarten haben. In der Biodiversität sind wir leider noch nicht so weit, dass wir für eine einzelne Region sagen können: So wird das Ökosystem der Nordsee in zehn Jahren aussehen. Das liegt daran, dass es so unglaublich viele Faktoren gibt, die das Einwandern und Aussterben von Arten beeinflussen und wir nicht wie die Klimaforscher die Temperatur als den einen zentralen Parameter haben. Artenzahl alleine eignet sich hier nicht, weil wir ja auch wissen wollen, um welche Arten es sich handelt. Wenn wir 50 Korallenarten durch 50 Algenarten ersetzen, haben wir immer noch 50 Arten, aber kein Korallenriff mehr.
Wenn mal eine neue Art nach Ihnen benannt würde, welches Tier oder welche Pflanze sollte das dann sein?
Die Gruppe, mit der ich mich am besten auskenne, sind die Kieselalgen, der Name wäre dann wohl etwa Melosira hillebrandii. Es ist aber alles andere als mein größtes wissenschaftliches Bestreben, dass mal eine Art nach mir benannt wird. Ich interessiere mich mehr dafür, das Ökosystem Meer als Ganzes zu verstehen.