Sauberer Strom ist nicht genug: Mehr Klimaschutz in Industrie, Verkehr und Gebäuden nötig
Kohle versus Wind- und Solarenergie – die Debatte über die Pariser Klimaziele dreht sich oft um die Stromversorgung. Doch selbst in einer Welt strenger Klimapolitik und sauberer Stromerzeugung könnte die verbleibende Nutzung fossiler Brennstoffe in der Industrie, dem Verkehr und im Wärmesektor noch genügend CO2-Emissionen verursachen, um die von der internationalen Gemeinschaft vereinbarten Klimaziele zu gefährden. Das hat jetzt ein internationales Forscherteam ermittelt. Die in Nature Climate Change veröffentlichte Studie ist die erste, die sich speziell auf die fossilen Rest-Emissionen jener Sektoren konzentriert, die nicht so leicht dekarbonisiert werden können wie die Stromerzeugung.
Wir wollten herausfinden, was wirklich zählt bei Kohlenstoffbudgets und Rest-Emissionen. Um entscheidende Engpässe auf dem Weg zu einer CO2-freien Wirtschaftsweise in Richtung einer Klimastabilisierung bei 1,5 oder 2 Grad Celsius zu erkennen, haben wir uns auf die Rolle der Emissionen fossiler Brennstoffe konzentriert, die in Industrien wie der Zementproduktion oder Stahlherstellung entstehen, die unseren Transportsektor vom Auto über die Fracht bis zur Luftfahrt antreiben, und die unsere Gebäude beheizen, erklärt Shinichiro Fujimori, Forscher des Nationalen Institutes für Umweltstudien (NIES) und der Universität Kyoto in Japan. Diese Sektoren sind viel schwieriger CO2-frei zu bekommen als unsere Energieversorgung, da es hier keine so offensichtlichen Alternativen wie die Erzeugung von Wind- und Solarstrom gibt.
Dabei zeigt sich, dass es tatsächlich diese Sektoren sind, die entscheidend bestimmen, wieviel CO2 in diesem Jahrhundert ausgestoßen wird, sowie ob und wieviel die Welt auf sogenannte negative Emissionen angewiesen sein wird – Technologien also, die der Atmosphäre CO2 entziehen. Und letztlich sind diese Sektoren dafür entscheidend, ob die international vereinbarten Klimaziele erreicht werden können.
Für 1,5° Celsius sind negative Emissionen nicht mehr eine bloße Möglichkeit – sondern eine Notwendigkeit
Das Pariser Ziel, die globale Erwärmung deutlich unter 2° Celsius und vielleicht sogar bei 1,5° zu halten, bedeutet eine enge Beschränkung der CO2-Emissionen bis 2100. Nach gegenwärtigen Abschätzungen beträgt das verbleibende Emissions-Budget für das 1,5°C-Ziel möglicherweise lediglich 200 Gigatonnen CO2, was in krassem Gegensatz zu den 4.000 Gigatonnen CO2 steht, die bei einer Fortsetzung der aktuellen Trends ausgestoßen würden. Die von den Nationalstaaten bisher zugesagten Minderungsmaßnahmen reichen nicht aus, um die Emissionen ausreichend zu reduzieren. Dies gibt Anlass zur Sorge, dass wir zunehmend von unsicheren und potenziell risikoreichen Technologien für negative Emissionsen abhängig werden. Diese entziehen der Atmosphäre CO2, indem sie beispielsweise die Bioenergienutzung mit dem Abscheiden und Speichern von CO2 aus Kraftwerksabgasen deutlich ausbauen (Carbon Capture and Storage, CCS).
Daher untersuchten die Forscher verschiedene Dekarbonisierungspfade zu den Pariser Klimazielen. Mit ernüchternden Ergebnissen: Wir haben errechnet, dass selbst bei enormen Anstrengungen aller Länder, einschließlich einer frühzeitigen und substanziellen Stärkung der beabsichtigten nationalen Beiträge, im Fachjargon NDCs oder nationally determined contributions genannt, die verbleibenden fossilen Kohlenstoffemissionen bei etwa 1000 Gigatonnen CO2 verbleiben werden, erklärt Gunnar Luderer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK, Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft), Hauptautor der Studie. Dies scheint das untere Ende dessen zu sein, was selbst mit sehr ehrgeiziger Klimapolitik erreicht werden kann, da ein Großteil der Rest-Emissionen aufgrund der vorhandenen Infrastrukturen und der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen bereits fest im System drin ist. Um das 1,5°C-Ziel für die Erwärmung am Ende des Jahrhunderts anzustreben, wäre eine unglaublich große Menge von mindestens 600 Gigatonnen CO2-Entfernung erforderlich – das entspricht dem 15-fachen der derzeitigen jährlichen CO2-Emissionen, betont Luderer. Negative Emissionen wäre also nicht mehr eine unter mehreren möglichen Optionen, sondern eine geophysikalische Notwendigkeit.
Das Team von Modellierern aus ganz Europa, den USA und Japan arbeitete mit sieben hochmodernen Integrated Assessment Models – ausgefeilte Computersimulationen, welche die sozialen und wirtschaftlichen Wechselwirkungen, die den Klimawandel bestimmen, sowie die Möglichkeiten zur Stabilisierung des Klimas durch Reduzierung der Treibhausgasemissionen unter Berücksichtigung der Temperaturziele sowie der wirtschaftlichen Kosten und technologischen Optionen beschreiben. Ihre Studie ist der erste Multi-Modell-Vergleich im Lichte der Pariser Vereinbarung, der Szenarien einer frühzeitigen Stärkung der politischen Ambitionen im Einklang mit den 1,5-2°C-Zielen mit Szenarien kontrastiert, die keine Stärkung der Klimaversprechen der Länder vor 2030 unterstellen.
Jede Verzögerung bindet die Welt noch enger an fossile Infrastrukturen
Unsere Analyse zeigt, dass die Stabilisierung der Erwärmung im Bereich von 1,5 bis 2° Celsius neben einer schnellen vollständigen Dekarbonisierung der Energieversorgung auch eine erhebliche Reduzierung des Energiebedarfs in Sektoren wie Industrie, Verkehr und Gebäude erfordert, betont Zoi Vrontisi vom E3MLab der Nationalen Technischen Universität Athen. Um die für die 1,5°-Stabilisierung erforderlichen zusätzlichen Einsparungen an fossilen Brennstoffen zu erreichen, müssen wir die Verbesserung der Energieeffizienz und eine weitgehende Elektrifizierung des gesamten Energiebedarfs beschleunigen. Die Forscher zeigen auch, dass eine Verzögerung der Stärkung der von den Nationen angekündigten Treibhausgasreduktionen (NDCs) vor 2030 nicht nur bedeuten würde, dass zu einem späteren Zeitpunkt noch mehr Emissionen reduziert werden müssten. Es würde vor allem auch die Abhängigkeit von Technologien zur Kohlendioxid-Entfernung erhöhen, da sie noch mehr Investitionen in fossilen Infrastrukturen bindet, so die Studie. Dies dürfte das 1,5°C-Ziel insgesamt außer Reichweite bringen.
Klimaschutz mag eine komplexe Herausforderung sein, aber am Ende geht es nur um einfache Mathematik: Um die Pariser Ziele zu erreichen, müssen die zukünftigen CO2-Emissionen innerhalb eines begrenzten Budgets gehalten werden, fasst Elmar Kriegler vom Potsdam-Institut zusammen. „Je mehr das Budget überschritten wird, desto relevanter werden Technologien zur Kohlendioxid-Entnahme aus der Luft, die mit großen Unsicherheiten behaftet sind. Auch wenn es immer noch schwierig ist, das verbleibende CO2-Budget für 1,5° Celsius genau zu bestimmen, so ist doch eines ganz klar: Die Treibhausgase müssen deutlich schneller reduziert werden als bisher geplant, um die Pariser Ziele zu erreichen.
Förderung:
Die Forschung, die zu diesen Ergebnissen geführt hat, wurde durch das Siebte Forschungsrahmenprogramm (Projekt-Nr. 308329 ADVANCE) und das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 (CD-LINKS, Nr. 642147) der Europäischen Union gefördert. Mehrere Forscher des PIK wurden zudem im Rahmen von ENavi, einem der vier Kopernikus-Projekte zur Energiewende, durch das BMBF gefördert.