SONNE-Expedition: Forschende kommen uralten Vorfahren der Mollusken auf die Spur
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Senckenberg hat ein weiteres Rätsel der Evolution gelöst. Nach umfassenden Genomanalysen konnten die Forschenden den Stammbaum der Mollusken entschlüsseln, einer der artenreichsten Tiergruppen. Die als Titelstory in der „Science“ veröffentlichte Studie liefert neue Erkenntnisse über den Urahn aller heutiger Mollusken. Dieses Weichtier hatte eine harte Schale, einen Fuß zur Fortbewegung und keine Augen. Die Forschungsergebnisse basieren unter anderem auf den Expeditionen SO239 und SO293 mit der SONNE.

Mollusken sind – mit über 100.000 bekannten und unzähligen noch unentdeckten Arten – ein äußerst vielfältiger Tierstamm, der nahezu alle Lebensräume der Erde besiedelt. Ihre Körperformen und Lebensweisen unterscheiden sich gravierend: Es existieren winzige Schnecken, aber auch meterlange Riesenkalmaren sowie Tiere mit hoher Intelligenz und komplexen Tarnmechanismen.
„Wir finden Mollusken in der Tiefsee, an Küsten, im Süßwasser und an Land. Sie sind Pflanzenfresser, Räuber oder Aasfresser. Weichtiere tragen erheblich zur Stabilität mariner und terrestrischer Ökosysteme bei", erklärt die Erstautorin der Studie Dr. Zeyuan Chen vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fügt hinzu: „Ihre außergewöhnliche Vielfalt erschwert jedoch eine Erfassung ihrer Evolutionsgeschichte."
Chen und ein internationales Team haben die Genome von 77 Mollusken-Arten aus allen der acht heutigen Weichtiergruppen untersucht. 13 dieser Genome wurden von Senckenberg-Forschenden erstmalig generiert. Mit Hilfe modernster Techniken rekonstruierten die Forschenden einen detaillierten Stammbaum und bestätigten wichtige Hypothesen zur Abstammung der Weichtiere.
„Durch unsere Daten können wir nun ein viel besseres Bild des Ahnen aller Weichtiere zeichnen", erläutert Chen und fährt fort: „Dieser vor mehr als 500 Millionen Jahren entstandene Ur-Mollusk hatte wahrscheinlich eine harte Schale, einen Fuß zur Fortbewegung, keine Augen und eine Radula – ein Fresswerkzeug in Form einer Raspelzunge."
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestätigen, dass sich Mollusken früh in ihrer Evolutionsgeschichte in zwei Gruppen aufteilten. Zu den Aculifera gehören Arten mit kleinen, nadelartigen Stacheln und bisweilen auch festen Schalen. Zu den Conchifera gehören die „traditionellen" Mollusken-Gruppen wie Schnecken, Muscheln und Kopffüßer.
Die neuen Erkenntnisse lösen außerdem eine seit langem geführte wissenschaftliche Debatte über die evolutionären Beziehungen zwischen bestimmten Mollusken-Gruppen. Monoplacophora – kopflose Weichtiere mit einer kappenartigen Schale, die als lebende Fossilien gelten – bilden laut der Studie den ältesten Abstammungszweig innerhalb der Conchifera. Die Forschenden schlagen zudem „Megalopodifera" – „Großfuß-Weichtiere" – als neue Verwandtschaftsgruppe vor, die Schnecken, Muscheln und Scaphopoden umfasst.
„Die hohe genetische Vielfalt von Mollusken sorgt sehr wahrscheinlich dafür, dass sie sich so erfolgreich an eine Reihe von Umgebungen und Umweltbedingungen anpassen konnten", fasst Prof. Dr. Julia Sigwart, Leiterin der Abteilung Malakologie am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt zusammen. „Unsere Forschung liefert eine Grundlage für das Verständnis der Evolution und der Biologie einer der erfolgreichsten Tiergruppen der Erde. Die schier endlosen Formen der Mollusken zeigen die ungeheure Kraft der tierischen Evolution."
Studie:
Zeyuan Chen et al. (2025): A genome-based phylogeny for Mollusca is concordant with fossils and morphology. Science. https://www.science.org/doi/10.1126/science.ads0215