Halbzeit im KAHR-Projekt: Wiederaufbau der Flutregionen bietet noch Chancen für mehr Klimaresilienz

Seit eineinhalb Jahren begleitet das BMBF-Projekt KAHR mit wissenschaftlicher Expertise den Neuaufbau der Flutregionen Rheinland-Pfalz und NRW. Eine Halbzeit-Bilanz der KAHR-Sprecher Prof. Dr.-Ing. Jörn Birkmann und Prof. Dr.-Ing. Holger Schüttrumpf.

Wenige Monate nach dem verheerenden Starkregenereignis in Deutschland nahm das KAHR-Projekt seine Arbeit in den zerstörten Flutregionen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz auf: 13 Partnerinstitutionen aus Forschung und Praxis begleiten seitdem gemeinsam den Wieder- und Neuaufbau der betroffenen Gebiete. Das KAHR-Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Die Abkürzung KAHR steht für: Klima-Anpassung, Hochwasser und Resilienz. Für Rheinland-Pfalz hat Prof. Dr. Jörn Birkmann von der Universität Stuttgart die Sprecherrolle inne, für Nordrhein-Westfalen Prof. Dr. Holger Schüttrumpf von der RWTH Aachen.

Herr Birkmann, Herr Schüttrumpf, wenn Sie heute zurückblicken: Wie haben Sie damals den Start des KAHR-Projekts so kurz nach der Flutkatastrophe erlebt?

Birkmann: „Es war ein sehr schneller Start – denn die Zeit war geprägt von der immensen Verwüstung in den betroffenen Gebieten. Wir als KAHR-Projekt haben uns quasi in Rekordzeit zusammengefunden. Denn es kannten sich bei Weitem nicht alle Partner untereinander. Von Anfang an war uns klar: Hier brauchen wir ein breit aufgestelltes Konsortium – ein großes Team, das teils wissenschaftliche, teils praktische Erfahrungen und Kenntnisse mitbringt. Aber wie genau wir dieses Wissen einsetzen konnten, das war zu Beginn nicht klar."

Schüttrumpf: „Das stimmt. Es war und ist ein unglaublich dynamisches Projekt. So in dieser Form habe ich noch nie in einem Projekt gearbeitet, es ist extrem agil. Und wir sind oft mit sehr praktischen Fragestellungen konfrontiert, die so normalerweise nicht in der Arbeit von Wissenschaftlern auftauchen. Unser Anspruch ist es, uns auf die ganz unterschiedlichen Bedarfe und Fragen der Politik, der Bevölkerung und der lokalen Unternehmen einzustellen."

Birkmann: „Am Anfang konnte keiner so richtig etwas mit uns anfangen. Deswegen war es uns besonders wichtig, als aller erstes Kontakte zu knüpfen – zu den Landesministerien, zu Betreibern von kritischen Infrastrukturen, zu betroffenen Kommunen und zur Bevölkerung. Heute sieht das anders aus und viele wissen, was hinter dem KAHR-Projekt steckt. Wir bekommen mittlerweile viele Anrufe aus verschiedenen Bereichen – so hat mich zum Beispiel jemand von der Wiederaufbaugesellschaft angerufen und mich nach unseren "10 Empfehlungen aus Sicht der Wissenschaft zum Thema Wiederaufbau" befragt, die wir letztes Jahr veröffentlicht haben. Aus diesem Anruf hat sich jetzt eine Zusammenarbeit entwickelt. Dieses und ähnliche Beispiele zeigen uns, dass Forschung und Wissenschaft im Wiederaufbau als Ansprechpartner als hilfreich erachtet wird."

War diese Wahrnehmung auch bereits zu Beginn des KAHR-Projekts zu spüren?

Schüttrumpf: „Das hat sich jetzt schon deutlich zu unserem Vorteil verändert. Wir sind von Anfang an immer wieder vor Ort und sehen die Entwicklung in den betroffenen Gebieten. Natürlich spüren wir auch oft den Frust der Bevölkerung, der es nicht schnell genug geht. Als Wissenschaftler, die sich schon lange mit Hochwasserereignissen beschäftigen, wissen wir: So ein Wiederaufbau nach einer Naturkatastrophe eines solchen Ausmaßes dauert lange – viele Jahre bis Jahrzehnte."

Birkmann: „Anfangs stand auch ein wenig Skepsis gegenüber der Forschung im Raum. Denn alle waren verständlicherweise bemüht, so schnell wie möglich wiederaufzubauen. Da wollte keiner über Retentionsflächen – also Überflutungsflächen – oder ähnliche Lösungen reden. Jetzt sieht die Situation anders aus und wir stoßen meist auf eine offene Haltung und vielfach auf Verständnis, wenn wir beispielsweise empfehlen, die Förderkriterien für den Aufbau viel stärker in Richtung Klimaresilienz und Hochwasserresilienz zu verändern."

Mit KAHR wollen Sie einen Beitrag zur Entwicklung von resilienten und klimaangepassten Lösungen leisten. Wie schätzen Sie aus der jetzigen Perspektive die Lage aktuell ein? Wie wird das Thema Klimaresilienz beim Wieder- und Neuaufbau angenommen?

Birkmann: „Der Wiederaufbau darf nicht als einzelnes Ereignis betrachtet werden. Es ist ein langer Prozess, der in mehrere Phasen unterteilt werden kann. Die erste Phase war geprägt vom Menschen retten, Gebäude sichern, aufräumen. Die zweite Phase war der schnelle Wiederaufbau gerade mit Fokus auf die Privathäuser. In der jetzigen Phase geht es darüber hinaus um die großen Infrastrukturen, wie Brücken und Bahnhöfe, aber auch Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten, wo die Frage vielfach noch offen ist, wie und ob wiederaufgebaut wird. Genau hier sollte eine klimaresilientere und hochwasserangepasste Bauweise im Fokus stehen – sprich Neuaufbau statt Wiederaufbau. Wir als Forschungsprojekt nutzen jede Chance, die wir sehen, um Argumentationshilfen und wissenschaftliche Befunde für mehr Klimaresilienz zu liefern."

In den letzten eineinhalb Jahren haben Sie bereits einiges in Bewegung gebracht. Sie haben zum Beispiel durch umfangreiche Brückenmessungen im Ahrtal Modelle entwickelt und so im Ergebnis ein Schema für hochwasserangepasste Brücken entwickelt. Auch soziale Aspekte spielen bei der KAHR-Forschung etwa durch Befragungen von betroffenen Haushalten eine Rolle. Wie gestalten sich Ihre Aufgaben, die über die eigentliche Forschung hinausgehen? Wie bringen Sie Ihre Ergebnisse an die richtigen Instanzen?

Birkmann: „Seit Beginn unserer Arbeit haben wir extrem viele Beratungen durchgeführt. Wir – die verschiedenen Partner im KAHR-Projekt – machen zum Beispiel Workshops zum Thema hochwasserresiliente Stromversorgung, zu natürlichen und technischen Retentionsräumen – also überschwemmbaren Flächen zur Hochwasservorsorge. Darüber hinaus sind wir laufend im Kontakt mit öffentlichen Institutionen wie Ministerien oder beispielsweise mit Präsentationen im Landtag Rheinland-Pfalz oder einer individuellen Beratung – das hängt immer von der jeweiligen Frage ab.
Am Anfang hatten wir mit KAHR den klaren Fokus auf Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Heute gehen wir mit den Erfahrungen und Ergebnissen, die wir dort gemacht haben und auch weiterhin machen, einen Schritt weiter und bringen diese Ergebnisse in bundesweite Debatten ein. Denn Fragen zur Klimaanpassung und zur Anpassung an Extremereignisse stellen sich eben nicht nur in den von der Flut 2021 betroffenen Gebieten, sondern auch im gesamten Bundesgebiet. Darauf geht auch das neue Klimaanpassungsgesetz des Bundes ein.
Herausforderungen für die Anpassung zeigen sich im Ahrtal – aber auch darüber hinaus. Wer sein Haus auf Stelzen bauen und so besser vor Starkregen und Hochwasser schützen will, muss erst mal auf Änderungen des Bauplanungsrechts hoffen. Bisher müssen sich Gebäude in die bestehende Struktur einfügen, das heißt, eine Abweichung mit einem Haus auf Stelzen ist nicht so weiteres immer möglich. Hier liegt es an den Rahmenbedingungen, die wir ändern müssen. Diese Diskussion findet aktuell statt – auch mit Input aus dem KAHR-Projekt, wie unter anderem auf Bundesebene, zum Beispiel im Rahmen der Novellierung des Baugesetzbuches (BauGB) und der dazugehörigen Expertengespräche – wie zum Paragraphen § 246c im BauGB."

Schüttrumpf: „Insgesamt möchten wir eine differenziertere Sichtweise in die Diskussion einbringen. Oft wird nur in Schwarz oder Weiß gedacht – also beispielsweise, ob man natürlichen oder technischen Hochwasserschutz einsetzt. Wir brauchen aber beides! In unserer modernen Welt haben wir die Gefährdung durch Hochwasser ein Stück weit vergessen. Wir müssen aber Hochwasserschutz als gemeinsame Aufgabe verstehen. Da ist nicht allein die Verantwortung der Verwaltung, der Eigenheimbesitzer oder der Wirtschaft gefragt. Sondern wir alle gemeinsam übernehmen hier Verantwortung und jeder muss seinen Beitrag leisten."

Und welchen Beitrag wird das KAHR-Projekt in der zweiten Hälfte der Projektlaufzeit erbringen? Können Sie hier schon konkrete Themen benennen?

Schüttrumpf: „Für uns steht das ganze Thema der Wasserrückhalteräume in den nächsten eineinhalb Jahren auf der Agenda. Da spreche ich sowohl von den technischen als auch den natürlichen Rückhalteräumen. Wir merken, dass der Prozess im Hinblick auf Hochwasserschutz und mehr Klimaresilienz jetzt erst wirklich gestartet ist und insgesamt einfach viel länger dauert, als das vor zwei Jahren jemand in den zwei Bundesländern geahnt hätte."

Birkmann: „Mit den Daten, die wir bis jetzt bereits erhoben haben, haben wir als KAHR-Projekt einen guten Überblick: Wo ist was passiert? Welche neuen Fragen haben sich beim Wiederaufbau gestellt? Alle diese Daten sammeln und analysieren wir im KAHR-Projekt und möchten diese Daten und die daraus folgenden Erkenntnisse natürlich weitergeben. Davon sollen in Zukunft auch andere Regionen profitieren können – gerade die Regionen, die ebenso im Mittelgebirge liegen.
Als KAHR-Projekt dokumentieren wir beispielsweise nicht nur Schäden, sondern beschäftigen uns intensiv damit, was in der Gesellschaft und der Bevölkerung vor Ort vorgeht. Die sozialen Aspekte – etwa wie wichtig eine psychologische Betreuung ist und wie lange sie benötigt wird – haben wir erfasst.

Auch versuchen wir die ‚Lessons Learned' aus dieser Katastrophe und dem bisherigen Wiederaufbau zu identifizieren und sehr unterschiedliche Daten und Befunde zu systematisieren. Was hat beispielsweise das Technische Hilfswerk für sein Katastrophenmanagement gelernt? Was hat ein Stromkonzern wie die Westnetz AG über ihre Verteilnetze gelernt? Was ist mit dem Baurecht, was gab es hier für Veränderungen? Mit all diesen Punkten sind wir in KAHR unterwegs und dokumentieren die Ergebnisse und leiten weitere Empfehlungen aus Sicht der Wissenschaft ab."

Schüttrumpf: „Genau, wir dürfen das Thema nicht wieder in Vergessenheit geraten lassen. Frühere Hochwasserereignisse im Ahrtal – vom 14. Jahrhundert bis heute – haben wir als Gesellschaft verdrängt. Um uns besser schützen zu können, ist es aber wichtig, aus der Vergangenheit zu lernen und diese Erkenntnisse in zukünftigen Entscheidungen mitzuberücksichtigen, was zum Beispiel das Bauen am Fluss angeht."

Wenn Sie bereits heute Ihre „Lessons Learned" aus der Arbeit im KAHR-Projekt ziehen. Welche drei Punkte fallen Ihnen zuerst ein?

Schüttrumpf: „Erstens müssen wir lernen, wenn wir in hochwassergefährdeten Gebieten wohnen und arbeiten, dass es ein Risiko gibt. Mit diesem Risiko müssen wir leben und uns entsprechend anpassen. Zweitens müssen wir offen sein für technische Lösungen. Natürlicher Hochwasserschutz alleine reicht nicht, da müssen wir auch über große Rückhaltebecken oder Talsperren nachdenken. Drittens müssen wir das Thema Frühwarnung stärker adressieren. Denn wir werden auch in Zukunft Hochwasser haben. Deswegen müssen wir dafür Sorge tragen, die Bevölkerung rechtzeitig zu warnen und aus einer akuten Gefährdungslage herausholen zu können."

Birkmann: „Aus meiner Perspektive müssen wir erstens dringend die Rahmenbedingungen unter die Lupe nehmen und auch Änderungen vornehmen – sowohl bei der finanziellen Förderung als auch beim Baurecht. Zweitens müssen wir insgesamt unsere Denkrichtung ändern und uns die Frage stellen, wie wir mit Hochwasser leben können. Das bedeutet etwa, unsere Bauweise entsprechend zu ändern oder zum Beispiel das Ahrtal so umzugestalten, dass Hochwasser schadfrei durch die Städte fließen kann. Drittens brauchen wir eine Sensibilisierung dafür, dass man gemeinsam für Hochwasserschutz und Klimaresilienz verantwortlich ist. Dafür braucht es noch stärker interkommunale Lösungen. Das heißt zum Beispiel: Wenn das obere Ahrtal bereit ist, Flächen zum Wasserrückhalt bereit zu stellen, braucht es irgendeine Form der Kompensation – wie etwa finanzielle Spielräume, um dies auszugleichen."

Herr Birkmann, Herr Schüttrumpf, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Zur Person Prof. Dr.-Ing. Jörn Birkmann

Prof. Dr.-Ing. Jörn Birkmann ist Leiter des Instituts für Raumordnung und Entwicklungsplanung an der Universität Stuttgart. Er ist Koordinierender Leitautor im Weltklimarat (IPCC) und befasst sich im Rahmen mehrerer BMBF-Projekte und eines ERC-Synergie Grants mit Fragen der Anpassung an den Klimawandel und sogenannte Extremereignisse durch Planung.

Zur Person Prof. Dr.-Ing. Holger Schüttrumpf

Prof. Dr.-Ing. Holger Schüttrumpf ist Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Wasserbau und Wasserwirtschaft (IWW) an der RWTH Aachen (Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen).
Er studierte von 1987 bis 1993 Bauingenieurwesen an der Technischen Universität Braunschweig und promovierte dort 2001. Von 2001 bis 2007 war er an der Bundesanstalt für Wasserbau an der Dienststelle Hamburg tätig. Seit 2007 hat er die Professur am IWW der RWTH Aachen inne.