DAM-Pilotmission: Forschende entschlüsseln Geheimnis rätselhafter Gruben in der Nordsee

Die Weltmeere sind ein gewaltiger Lebensraum für unzählige Lebewesen, die auf dem Meeresgrund siedeln, laichen, graben oder sich ernähren. Dabei beeinflussen sie auch die Gestaltung des Meeresbodens. Forschende der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) haben in einer Studie die kraterartigen Vertiefungen am Grund der Nordsee genauer untersucht und liefern erstmals eine schlüssige Erklärung für die Bedeutung von Wirbeltieren hinsichtlich der Meeresbodengestaltung. Die Arbeiten wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Der Meeresboden in der Nordsee ist übersät mit Tausenden von kraterartigen Vertiefungen im Sediment, den so genannten Pockmarks. Weltweit gibt es vermutlich Millionen von ihnen. Sie entstehen durch aufsteigende Fluide, so die gängige Lehrmeinung. Ein Großteil dieser Vertiefungen gibt Forschenden jedoch bis heute Rätsel auf, denn viele lassen sich nicht durch Fluidaustritte wie Methan erklären. 

"Unsere Ergebnisse zeigen zum ersten Mal, dass diese Vertiefungen in direkter Verbindung mit dem Lebensraum und dem Verhalten von Schweinswalen und Sandaalen auftreten und nicht durch aufsteigende Fluide gebildet werden", sagt Dr. Jens Schneider von Deimling, Erstautor der aktuellen Studie und Geowissenschaftler an der CAU. „Unsere hochaufgelösten Daten liefern eine neue Interpretation für die Entstehung von Zehntausenden von Gruben am Meeresboden  der Nordsee und wir sagen voraus, dass die zugrundeliegenden Mechanismen weltweit gelten, aber bisher übersehen wurden", so Schneider von Deimling weiter. 

Für die Untersuchung haben der Geologe sowie Forschende des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) und des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) den Meeresboden in der Nordsee vor Helgoland zentimetergenau untersucht und dabei auch das Verhalten von Wirbeltieren in ihre Analysen einbezogen. Die Forschungsergebnisse entstanden unter anderem in der vom BMBF geförderten Pilotmission „Ausschluss mobiler, grundberührender Fischerei in Schutzgebieten der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone von Nord- und Ostsee" der Deutschen Allianz Meeresforschung (DAM).

Schweinswale jagen Sandaale am Meeresboden

Die Mehrzahl der Vertiefungen im Meeresboden in der Deutschen Bucht, so vermutete das Forscherteam, werden unter anderem von Schweinswalen bei der Nahrungssuche erzeugt und im weiteren Verlauf durch Bodenströmung ausgekolkt. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei dem Sandaal zu - ein kleiner, aalartiger Fisch, der die überwiegende Zeit des Jahres flach vergraben im Sediment lebt. Der Sandaal ist nicht nur in der Fischerei beliebt, sondern wird auch von Schweinswalen in großen Mengen konsumiert. 

„Aus Analysen des Mageninhalts gestrandeter Schweinswale wissen wir, dass unter anderem Sandaale eine wichtige Futterquelle für die Population in der Nordsee darstellen", sagt Dr. Anita Gilles vom TiHo-Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW). Die Forschenden konnten aufzeigen, dass die Meeressäuger die vergrabenen Sandaalen aufspüren und dabei Gruben im Meeresboden hinterlassen.

Moderne Fächerecholot-Technologie eingesetzt

Der Nachweis der Pits gelang erst in den letzten Jahren auf Grundlage moderner Fächerecholottechnologie, die an der CAU betrieben wird. „Der Entstehungsmechanismus dieser Pits, wie wir die Gruben nennen, erklärt wahrscheinlich auch weltweit die Existenz zahlreicher kraterartiger Vertiefungen am Meeresboden, die als Folge von Methangasaustritten fehlinterpretiert wurden", sagt Schneider von Deimling. In der Nordsee identifizierten die Forschenden exakt 42.458 dieser Pits mit einer durchschnittlichen Tiefe von nur elf Zentimetern, die sich deutlich von den eher konischen Kratern der Pockmarks abheben.

Interdisziplinärer Ansatz führt zur neuen Hypothese

Schlüssel zu den neuen Erkenntnissen war ein disziplinenübergreifender Ansatz. Er führte geologische Untersuchungen, geophysikalische Sonarmessungen, Verhaltens- und Nahrungsbiologie von Wirbeltieren, Satellitenauswertung sowie ozeanographische Analysen zusammen. Durch die präzise Analyse von Millionen von Echolotungen, die mit deutschen Forschungsschiffen erhoben wurden, konnte die Forschenden den ungewöhnlichen Pits auf die Spur kommen. Die Analyse der Daten, die auf tausenden zurückgelegten Seemeilen mit Forschungsschiffen erhoben wurden, war eine Mammutaufgabe.

773.369 Tonnen Sediment umgelagert

Aktuell geht das Forschungsteam davon aus, dass die anfänglichen Fressgruben als Keimzelle für die Auskolkung dienen und sich schließlich zu größeren Pits entwickeln. Diese Erkenntnis hat darüber hinaus weltweite Folgen. Das Durchwühlen von Sedimenten durch Wirbeltiere im Ozean könnte den Meeresboden auf globaler Ebene modulieren und benthische Ökosysteme beeinflussen. Allein im Untersuchungsgebiet sind neun Prozent des Meeresbodens von Pits bedeckt. Erste Volumenabschätzungen haben ergeben, dass hier 773.369 Tonnen Sediment auf einer Fläche von 1.581 km² umgelagert wurde. Das entspricht ungefähr dem Gewicht einer halben Millionen PKW. „Unsere Ergebnisse haben aus geologischer und aus biologischer Sicht weitreichende Bedeutung. Sie können dazu beitragen, ökologische Risiken im Hinblick auf den Ausbau erneuerbarer Energien im Offshore Bereich zu bemessen und damit auch den Meeresumweltschutz zu verbessern", schlussfolgert Schneider von Deimling.

Originalpublikation:

Schneider von Deimling, J., Hoffmann, J., Geersen, J., Koschinski, S., Lohrberg, A., Gilles, A., Belkin, I., Böttner, C., Papenmeier, S., Krastel, S.: Millions of seafloor pits, not pockmarks, induced by vertebrates in the North Sea. Commun Earth Environ (2023). DOI: 10.1038/s43247-023-01102-y